von Sarah Hammerschmid. Ein Text über die enge Beziehung zwischen Zwillingen und das gemeinsame Durchstehen schwieriger Situationen, erzählt in fragmentarischen Erinnerungen und geprägt von einem Gefühl des Verlustes.
Ich habe dich vor mir, wie du die Pistazien aufknackst. Eine Nussschale nach der anderen landet auf dem Boden neben dir, während du mir von den Regenwürmern erzählst, die du in einem Plastikkübel gesammelt und nachhause mitgenommen hast. Ich verstehe nicht ganz, was du an diesen Tieren so toll findest, mich ekeln sie irgendwie, aber es fasziniert mich, dass sie mehrere Herzen haben. War das nicht bei Kraken auch so? Oder haben sie blaues Blut? Du würdest es sicher wissen. Ich könnte auch einfach nachlesen.
Wo Mama und Papa sind, wissen wir nicht so genau, aber das ist für uns ganz normal. Wir nehmen oft unsere Freunde von der Schule mit nachhause und spielen mit ihnen im Wohnzimmer Lavaboden und bauen Höhlen. Die Eltern der anderen Kinder hätten das niemals durchgehen lassen, weil wir immer einen ziemlichen Saustall hinterlassen haben. Wir sitzen nebeneinander im Auto (hinten), Mama fährt, Papa schläft auf dem Nebensitz, Mama hat gesagt, er hat zu viel getrunken, wir wissen nicht, was das heißt. Dann kommt das Lied Losing my Religion von R.E.M. und wir singen mit, Papa wacht auf, seine Augen sind noch ziemlich verklebt. Das Lied hat ihn geweckt, er tippt mit den Fingern am Armaturenbrett den Takt mit und lächelt. Ich kann mich nicht mehr erinnern, ob Mama irgend etwas gesagt hat oder einfach nur gefahren ist, stumm, wie sie irgendwie immer war.
Mama habe ich vor mir als Frau mit dunklen Ringen unter den Augen. Sie hatte immer diese dunklen Ringe unter den Augen. Sie war schlecht gelaunt, weil Papa schlecht gelaunt war. Sie haben oft gestritten. An eine Situation erinnere ich mich ziemlich gut. Du hältst dein Holzschwert in der Hand und hast eine selbstgebastelte Papierkrone auf dem Kopf. Im Wohnzimmer läuft eine CD von Papa, die Stones oder so. Er sitzt daneben und raucht (das eindringlichste Bild von Papa ist das von ihm, wie er einfach auf dem Sofa sitzt und seine Zigarette raucht, sich zurücklehnt und den Kopf zur Decke richtet, dort, wo das alte Kreuz mit Jesus hängt, das ich nie verstanden habe, ich hätte dich gern mal gefragt, ob du es verstehst, aber wahrscheinlich hast du es auch nie verstanden), Mama steht in der Küche und kocht oder raucht – oder beides. Auf einmal steht Papa auf, nimmt eine Decke und versucht, sie an der Vorhangstange aufzuhängen. Ein leuchtender Staubblock schwebt mitten im Raum. Papa zupft und zerrt an der Decke herum, bis ein Teil des Fensters ganz abgedeckt ist. Der Raum verdunkelt sich. Er sieht uns kurz an, dann schaut er zum Radio, fängt langsam an, mit dem Kopf im Takt mit zu wippen, schnippt mit den Fingern und summt etwas vor sich hin. Ich erinnere mich leider nicht mehr an das Lied.
Dann sieht er wieder zu uns herüber, wir sind etwas irritiert (oder warst du es nicht?) von seinem komischen Getue, normalerweise ist er immer relativ friedlich und bewegt sich von seinem Sofaplatz nicht weit weg – dann sieht er deinen Umhang, diesen Spielteppich mit den Straßen drauf, grün mit grauen Straßen und blauen Autos, und zieht ihn dir einfach weg. Du wehrst dich zunächst und murmelst irgend etwas vor dich hin, ich glaube, dass du ziemlich baff bist, genauso wie ich, die ich nur so da stehe und nicht ganz folgen kann, was gerade passiert, und als er stärker daran zerrt und ihn dir herunterreißt, sodass du auf den Boden fällst und laut zu schreien beginnst, schreit er plötzlich auch. Dann kommt Mama, einen Kochlöffel in der Hand, hält kurz inne, bis sie ebenso schreiend auf Papa zuläuft, ihm den Teppich aus der Hand zu reißen versucht, brüllt, „Was willst du denn? Gib ihm seinen Teppich zurück, lass die beiden bitte in Ruhe, lass sie in Ruhe!“, und dieses Lass sie in Ruhe hat sich so eingebrannt in mein Gedächtnis, dieser eine Satz mit seiner Melodie und der Länge und Betonung der Wörter, dass ich oft jetzt im Alltag, wenn irgendjemand etwas schreit in ähnlicher Tonalität, sofort zurückgeworfen werde in diese Situation, wo du schließlich eingekräuselt wie ein Gürteltier am Boden lagst und weintest und darauf gewartet hattest, bis endlich alles vorbei war. Als es vorbei war, lag Mama neben dir und hielt dich fest.
Und weißt du noch? Kirschkernweitspucken; mit den Straßenmalkreiden weiße Zahlen auf den Beton schreiben und darauf herumhüpfen; mit dem Kescher tote Kaulquappen aus dem Biotop fischen, weil es zu heiß war; Maikäfer mit Federballschlägern hin- und herschießen; mit dem Fahrrad fahren, Geräusche von klackernden Pferdehufen machen und sich dabei vorstellen, zu reiten; die Kaninchen aus dem Stall nehmen, sich von ihnen in die Finger knabbern lassen und sie freilassen; den Grashalm an den elektrischen Kuhzaun halten und warten, bis der leichte Schlag durchgeht; die Markierungen auf den Bäumen, die gefällt werden sollen, mit Seifenwasser abschrubben; Marillenkernweitwerfen und Apfelputzweitwerfen; Mama beim Strudelteigausziehen oder beim Fleischwolf drehen helfen; Kakao durch den Plastikstrohhalm trinken; mit Tannenzapfen kleine Waldhäuser bauen; tote Kröten von den aufgeheizten Straßen kratzen und natürlich an deinem geknüpften Armband drehen, abends, wenn du nicht einschlafen konntest; an deinem geknüpften Armband drehen, so lange, bis du eingeschlafen bist.
Ganz stolz habe ich immer gesagt, dass ich einen Zwillingsbruder habe. Die anderen Kinder haben nicht verstanden, dass ein Junge und ein Mädchen Zwillinge sein und gleich aussehen können. Ich fand nie, dass wir so gleich aussehen.
Ich weiß nicht, wo du jetzt bist und wie du genau aussiehst. Vielleicht siehst du so aus wie ich, wahrscheinlich etwas schmaler, weil ich seitdem ziemlich zugenommen habe. Wo haben sie dich hingesteckt? So viele Fragen an dich brennen in meinem Hals. Sie hinterlassen einen schalen Geschmack. Als wäre irgendein kleines Tier hineingeklettert und dort drin gestorben. Alles, was ich jetzt von dir habe, sind die Erinnerungen. Sie fallen mir ein, in Bildern.
Hinter uns steht ein Vater mit seinen zwei Kindern im kniehohen Wasser (ihnen geht es bis zu den Köpfen) und versucht ihnen das Schwimmtempo beizubringen. Du hast unseren Weltkugel-Wasserball dabei, umschließt ihn mit deinen dünnen Armen, auf denen sich eine Gänsehaut aufgezogen hat. Dir wird immer so schnell kalt im Wasser, es wird nicht lange dauern und du fängst zu bibbern an und bekommst blaue Lippen. Wenn Mama das mitbekommt, wird sie dich rufen und du musst aus dem Wasser. Du versuchst, mit deinem Oberkörper auf der Weltkugel zu balancieren und dich über Wasser zu halten. Irgendwann kippst du entweder nach links oder rechts ab und platscht in den See. Dann tauchst du auf, spuckst mir eine kleine Wasserfontäne ins Gesicht, umschließt den Ball mit den Armen und versuchst, dich wieder irgendwie hinauf zu robben. Dann dasselbe Spiel von vorne.
Mit der Erinnerung an dich und die gemeinsamen Tage am See wird mir alles irgendwie erträglicher. Gestern habe ich geträumt: Ich stehe gemeinsam mit einer Frau in einem Raum vor einer großen Glastür (oder einem Glasfenster). Hinter der Glastür, also draußen, steht ein schreiendes Mädchen. Ich sehe die Frau an, von der ich ausgehe, dass sie die Mutter des Mädchens ist. Das Mädchen draußen schreit, die Mutter sieht mich beschwichtigend an und lacht (ich glaube, sie hält das Schreien des Mädchens für einen Scherz). Doch das Mädchen hört nicht auf, zu schreien. Es schreit immer lauter, es kreischt. Es kreischt und hört nicht mehr auf. Erst jetzt verformt sich der lächelnde Mund der Mutter zu einem besorgten.
Hast du dein geknüpftes Armband noch? Ich frage mich, wer daran dreht, bis du einschläfst. Ich hoffe, du kannst gut schlafen. Wenn nicht, stell dir einfach vor, dass ich neben dir liege und so lange an dem Armband drehe, bis du eingeschlafen bist.
Über Sarah Hammerschmid (@sarokolumna)
Ich studiere Zeitgeschichte (MA) in Wien mit dem Schwerpunkt Erinnerungspolitik. Ich schreibe vor allem Essay, Prosa, journalistische Texte und Lyrik und arbeite seit fünf Jahren an einem literarischen Journal. Momentan lebe, schreibe und arbeite ich in Wien.
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