von Xaver Egert
Er kann mit den Leuten nicht am Telefon sprechen. Er muss ihnen ins Gesicht schauen können. Er habe da diesen Zustand…
Das sagt der Protagonist im Film „Memento“ von Christopher Nolan. Der Protagonist hat eine anterograde Amnesie – er kann Informationen aus dem Kurzzeitgedächtnis nicht ins Langzeitgedächtnis übertragen. Dadurch ist für ihn immer alles neu, er lebt in einer permanenten Gegenwart. Trotzdem versucht er, in seinem Leben zurechtzukommen und ein langfristiges Ziel zu erreichen. Er sucht den Mörder seiner Frau.
Um wichtige Erkenntnisse während der Suche nicht zu vergessen, schreibt sich der Protagonist alles auf – und tätowiert sich wichtige Kernfakten gleich auf seinen Körper. Dadurch, so denkt er, kann er es schaffen, sich auf seiner Suche nach dem Mörder Schritt für Schritt logisch voran zuarbeiten.
Er unterliegt damit aber demselben Trugschluss wie Dostojewskis Raskolnikow: Er denkt, sich selbst und die Situation unter Kontrolle zu haben. Doch wie sich herausstellt, hat er gar nichts unter Kontrolle. Außer einen Aspekt.
Der Protagonist des Filmes schaut den Menschen gerne in die Augen. Das gibt ihm mehr Sicherheit. Er kann so die Menschen besser als die Individuen erfassen, die sie sind. Gerade in seinem Zustand ist das für ihn wichtig, um einschätzen zu können, ob er ihnen Vertrauen schenken kann oder nicht. Und das ist gerade deshalb spannend, weil er damit zumindest auf der metaphorischen Ebene das genaue Gegenteil von uns Menschen hier in Deutschland ist.
Denn wenn wir eins verlernt haben, dann ist es, den Menschen in die Augen zu schauen. Menschen als Individuen zu sehen. All unsere Debatten orientieren sich längst nur noch an Stereotypen und Rollenklischees, die man in der Realität nur sehr selten antreffen dürfte – wenn überhaupt. Dabei werden in den Debatten immer zwei extreme Pole aufgespannt: Faule Bürgergeldempfänger gegen fleißige Arbeitende, Migranten gegen Ortsansässige, Woke gegen „Normale“ – die Liste ist endlos. Und zwischen diesen extremen Polen klafft ein Abgrund, wie, als gäbe es keine Zwischenstufen. Es gibt nur Schwarz und Weiß. Wo ist unser Grau?
Würde sich irgendjemand auch nur die Mühe machen, sich eingehender mit den Menschen zu beschäftigen, die da immer so bedenkenlos in Schubladen geschleudert werden, würde diese Person feststellen, dass diese Extreme zwar ganz nett sind, um Debatten aufzuheizen, dass sie an der Realität aber meilenweit vorbeigehen.
Dass wir Menschen in Schubladen einteilen, ist an sich ein typisch menschlicher Reflex, der kognitiver Überforderung vorbeugt. Daran ist per se nichts Verwerfliches – solange wir uns dieses Reflexes bewusst sind.
Derzeit wird man aber das Gefühl nicht los, dass es eigentlich egal ist, wer gerade was sagt. Denn jeder hat sich eh im Voraus eine Meinung gebildet, die meist auf der Zugehörigkeit dieser Person basiert oder auf etwas, was diese Person mal in der Vergangenheit gesagt oder getan hat. Streng genommen brauchen wir eigentlich keine Debatten mehr. Es reicht allein die Ankündigung, damit sich Meinungen bilden. Schade eigentlich.
Menschen sind individuell – haben wir das schon vergessen? Zugehörigkeiten sind wichtig, um unser soziales Zusammenleben zu vereinfachen und zu regeln. Aber sie sind nicht alles.
Es ist allerhöchste Zeit, dass wir wieder anfangen, unserem Gegenüber ins Gesicht zu schauen und uns die Mühe zu machen, diese Person zu verstehen. Auf diese Person zuzugehen und uns in sie hineinzuversetzen.
Das Spiel mit den extremen Rollen nutzt am Ende des Tages nur Einem: Der extremen Rechten. Sie profitiert davon, wenn wir den anderen aufgrund ihrer Andersartigkeit mit tiefem Misstrauen begegnen. Sie profitiert davon, wenn sich Gräben bilden. Höchste Zeit also, diese Gräben zuzuschaufeln.
Unsere Gesellschaft kann viel vom Protagonisten von Christopher Nolans „Memento“ lernen. Sie sollte damit anfangen, den Menschen in die Augen zu schauen. Denn sie hat da diesen Zustand.
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