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Erik Klüssendorf-Mediger

Dysis [griech.: Westen] - eine Kurzgeschichte

von Lena Ghio. Eine dystopische Kurzgeschichte über eine künstlich geschaffene und perfekt kontrollierte Welt, die gezeichnet ist von den Auswirkungen von Überkonsum und dem Verlust von Menschlichkeit.




Eine Gestalt kommt hinkend die Straße herunter. Sie sieht fast menschlich aus, in ihrer Jacke glitzern goldene Fäden. Eines ihrer Augen ist mit vielen Schichten braunen Paketbands zugeklebt. Sie sucht etwas.


Schon seit Längerem weht kein Wind mehr über den Teer der Straße, aber die Luft ist sehr angenehm, durchzogen von modernen Aromen, Lotus und Ambra. Die letzten Feuer harmloser Revolten sind ausgetreten und rauchen nicht mehr. Aus ihren Resten hat man am Straßenrand eine Installation innoviert und resümierend für gut befunden.


Die Gestalt hält in unregelmäßigen Abständen kurz inne, sodass der eine Fuß schon zum Weitergehen über dem nächsten Schritt hängt und senkt den Blick irritiert auf die verdrehten Beine. Sie kann es sich nicht erklären, aber zwischen den Füßen spannt sich Verpackungsmaterial – die abgerissenen Packbänder eines einstmals quadratisch geschnürten E-Schrottbündels mit der Aufschrift „GLOBAL TRANSIT“ – die sie behindern. Ja auch ein bisschen beschämen, aber abhalten lässt sie sich nicht.


Über der glatten Straße liegt eine Ruhe, die versichert, dass alle Gefahr gebannt ist, es gibt keinen Müll mehr, man hat ihn weggeschafft, keine Tränen und auch keine Wunden. An der Stelle, wo Bordstein und Fahrbahn zusammenstoßen hat sich schwerer Schmuck abgesetzt. Schwarze Kugelschreiber deuten bleiern in Richtung Zukunft, ganz und gar glitzernde Armbanduhren hängen wie fette Schnecken über die Kante.


Sonne, stets weißer, ausgefaserter Punkt am Himmel, schauert die Hitze durch mehrere Schichten Spektraldämmung runter, auch an ihr ist nichts Gefährliches mehr, nichts Sengendes oder Blendendes. Es ist, als ob man durch die Abtönscheibe nur auf einen Vertreterposten blickt.


Es ist so sauber hier... man kann vom Boden essen. An den Enden der Straße und in allen Richtungen verhindern streifenfreie Glaswände das Eindringen von Zugluft und Feinden. Es hat immer genau 21 Grad Celsius.


Die Gestalt sieht sich unablässig in verschiedene Richtungen um. Ihr Blick klettert die Hausmauern hoch. Er bleibt kurz an irgendwelchen Umgebungsvorsprüngen hängen, fällt letztlich zurück aufs Pflaster und wird verdrossen ein paar Meter mitgeschleift. Dann huscht er weiter. Die Gestalt nimmt einen vakuumierten Behälter aus einem Schacht neben ihr, an dem lauter grüne Lämpchen blinken. Rote Lämpchen gibt es nicht mehr. Man hat ihre Produktion eingestellt.


Von der einen Ecke des Behälters aus kann man die Folie abziehen und das Premiumsushi entnehmen. Die Gestalt weiß, wie das geht. Es ist wie atmen für sie. Man kann von außen sehen, wie schmackhaft das Sushi ist, das Sushi ist premium.


Die Gestalt zerrt jetzt etwas erbost an dem Verpackungsband, das sich so fest um ihre Füße gezurrt hat. Un-lucky, dass sie sich sowas jetzt eingefangen hat. Es ist von einer Ladung E-Schrott gerutscht, lauter Mikrowellen, die man weit wegschicken wollte. Man kann einfach alles Dreckige und Kranke und Hässliche wegschicken und bekommt Sauberes, Gesundes und Schönes zurück. Es ist total einfach – und lecker und es hat den Wow-Effekt, aus der Erfolgsschatulle fällt ein vergoldetes Ginkoblatt nach dem anderen und alle haben Elmex Gelee gekauft.


An einigen Stellen sind glänzende Sterne in den Asphalt eingelassen, graviert mit den Namen der Großen, übersät von den rot-öligen Schmierflecken der Begeisterung; jeder Stern besteht aus altrosafarbenem Terrazzo. Weiter vorn verlaufen stilisierte Tribünen an den Hausmauern; der Jubel ist längst zum Standbild geronnen, aus Messing gegossene Popcorntüten liegen expressiv verschüttet über den Rängen und zeugen von BOOM, kunstvoll legierte Laola-Arme spitzen bronzefarben über die Balustraden und kurz vor der Ampel hat man in einer Nische auch noch dem letzten Übel ein Denkmal gebaut.


Der „Übel“ sitzt auf einem Kubus und man hat den Eindruck des Elends fantastisch in einen Düsterblick aus Achat und Guyana Teak gebannt. Man freut sich im Vorbeigehen an dem subversiven Mythos, den er noch abhaucht. – Ein paar seltene Grautöne catchen; erst ein bisschen Dirt macht das Weltweiß ja handsome...


Auch die Gestalt sieht manchmal gern in die störrisch gemaserten Äuglein. Aber jetzt ist sie nicht stehengeblieben. Konzentriert streckt sie den Kopf vor und die Gehwegpalmen werfen krause Schatten auf ihre nach außen gespreizten Ellenbogen.


Leise schallt Musik über das Pflaster und wird von einer Ecke zur nächsten weitergeschickt. Auf der rechten Straßenseite steht kurz vor der Kreuzung ein stählerner Mitigant und zeichnet mit seinem Pendel entspannende Muster in den Boden; atemlos ixt sie weiter.


Dieses blöde Band zwickt zwischen den Füßen! Es stinkt und lässt einen an rostige Waschmaschinenwüsten und zerschnittene Kinderhände denken. Die Gestalt hebt ihre Hand mit den French Nails und drückt die vielen Schichten Paketbands noch einmal fest aufs Auge. Mit einem Auge sieht man nicht mehr dreidimensional, besonders Kugelformen sind ein Problem. Die Gestalt blickt immer wieder die aufragenden Hausfluchten entlang. Sie hat alles, was sie braucht, aber sie sucht noch etwas. Sie sucht und legt langsam Strecke zurück, aber bleibt nicht stehen. Das Gespinst zwischen den Füßen hat sich schon ein bisschen gelockert, hoffentlich fällt es bald ab und wird weggeräumt. Wenn es durch die riesengroße Zauberkugel gelaufen ist, kriegt man sicher einen bambusleichten Picknickbecher dafür.


Dieses Gesuche nimmt die Gestalt schon ein bisschen mit. Alles muss sie beachten und sich konzentrieren, damit sie nicht übersieht, was sie sucht. Sie weiß nicht, wie es aussieht und was sie damit machen kann, aber wenn sie es hat, wird es ihr ganz sicher bessergehen. Ein dringliches Klopfen in ihrem Inneren lässt sie sicher sein und weiterhinken.


Plötzlich, es ist vielleicht ein anderer Tag oder eine ganz andere Zeit, aber es hat sich nicht viel verändert – vielleicht kriechen noch ein paar mehr Armbanduhren über die Bordsteinkanten und die Musik aus den Lautsprechern klingt noch euphonischer – bleibt die Gestalt plötzlich stehen. In dem einen starren Auge spiegelt sich ein großer, ein tödlicher Schrecken.


Es hat sie hart getroffen, dass ihre Suche sinnlos ist: Es gibt kein Mehr.


 

Über Lena Ghio:

Ich bin Lena und 35 Jahre alt. Als Gymnasiallehrerin arbeite ich hauptberuflich in München und bin nebenbei freischaffende Autorin, Drehbuchautorin und Regisseurin für Film und Theater. Auch als Schauspielerin durfte ich bereits an zahlreichen Projekten mitwirken. Im Moment studiere ich außerdem Dramatisches Gestalten in Nürnberg und arbeite an meinem Romandebüt..

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