von Michaela Thunemann. Eine Kurzgeschichte über den tiefen Wunsch, in schwierigen Momenten unerschütterlich zu bleiben: Eine Mutter stellt sich ihren physischen und emotionalen Grenzen, um ihre Kinder sicher durch ein unerwartetes Naturhindernis zu führen.
Mit einem solchen Überfluss an Wasser hatte sie nicht gerechnet. Früher war da nur ein Rinnsal gewesen. Und jetzt ergoss sich aus den grauweißen Schneebrettern jenseits der Latschen ein reißender Strom über den Weg. Den einzigen Weg zur Hütte. Das milchige, undurchsichtig türkis schimmernde Wasser warf sich laut rauschend die Abhänge hinunter. Aus dem Wasser heraus ragten überspülte Felsbrocken, die weit auseinander lagen. Bunte, neonfarbenen Tupfen sich an den Wasserrändern entlangtastender Bergsteigender schoben sich wie Schachfiguren an den steinernen Flanken des Wasserfalls entlang, der zuvor ein Weg gewesen war. Sie spürte eine Unruhe in sich aufsteigen, denn sie war mit den Kindern bereits drei Stunden bergauf gewandert, und die Hütte lag eigentlich nur noch eine Dreiviertelstunde entfernt. Die Kinder waren erschöpft. Sie war erschöpft. Sie hatte damit gerechnet, bald oben anzukommen und auf der recht luxuriösen Hütte einen Kaffee zu trinken. Die Kinder bekämen ein Spezi und dann abends vielleicht noch einen sündhaft teuren Burger. Aber dann fiel ihr Blick auf das tosende Wasser. Manche Wandernde hatten angefangen, sich die Schuhe auszuziehen. Ihre Kinder plapperten wild durcheinander: „Mama, warum hat denn da niemand eine Brücke gebaut?“
Sie antwortete bemüht ruhig: „Normalerweise ist da nur ganz wenig Wasser. Dass hier so viel runterkommt, liegt am Schmelzwasser. Wenn es so heiß ist, dann kommt mehr. Kriegen wir schon hin.“
„Aber was machen wir jetzt, Mama?“
“Hmm.” Ihr Rucksack war zu schwer. Sie musste ihn ablegen, es war ihr, als ob ihr müder Körper leicht schwankte. Sie musste sich konzentrieren. Einen Weg finden, denn für den Rückweg war es jetzt schon viel zu spät.
Da! Ein Mann hatte sich vorgewagt. Er war auf einen Felsbrocken nahe am Rand im Wasser geklettert und schickte sich an zu springen. Zwischen den Steinen mussten ungefähr neunzig Zentimeter liegen. Würde sie mit Rucksack derart weit springen können? Und was wäre mit den Kindern?
Der Mann sammelte sich. Noch zögerte er, zauderte, sein Oberkörper schwankte. Die Umstehenden beobachteten ihn zweifelnd. Die Steine waren glitschig. Bei der Landung auf dem nächsten Stein würde er sich nirgends festhalten können. Noch einmal maß er die Distanz. Dann sprang er. Sie sah ihn schon mit dem Rückgrat auf der Steinkante aufprallen, aber da stand er. Auf dem Stein nahe am Ufer der anderen Seite.
Sie musste den Rucksack loswerden. Hinter ihr fingen die Kinder an, unruhig zu quengeln.
„Mama, können wir jetzt rübergehen? Ich hab Hunger. Das Wasser ist alle.“
Sie musste jetzt nachdenken, die Stimmen hinter ihr ausblenden oder für Ruhe sorgen, daher herrschte sie die Kleinen an: „Ihr setzt euch jetzt beide auf den Stein hier, da, ein Müsliriegel, den teilt ihr euch, und dann seid ihr einfach mal kurz leise, ich überlege mir etwas.“
Dieser verzweigte Strom, er begann sie zu überfordern. Sie war vor dem Ausflug in die Berge schon recht ausgelaugt gewesen, als wäre ihr Alltag auch ein Strom nicht mehr enden wollender Aufgaben: Konferenzen, Betreuungsorganisation, Kuchenbuffets, Kindergeburtstagsgeschenke, Ehekrisengespräche, Putzplanabsprachen, dann noch Planungen für das Wanderwochenende, denn sie hatte in den letzten Wochen wenig Nerven für ihre Kinder gehabt, sie war ihnen ausgewichen, hatte überhaupt keine Kapazitäten für deren Streitigkeiten um irgendwelche Actionfiguren und die ständigen Auseinandersetzungen um ihre Medienzeit mehr gehabt. Und daher wollte sie Zeit mit ihnen verbringen. Sie sollten an einem Bach Dämme bauen, auf dem Gipfel Steinmännchen aufschichten. In der Natur sein und sie würde dann entspannen können, sich endlich als gute Mutter fühlen und dabei einen verdammten Kaffee trinken. Aber mit der Natur selbst hatte sie nicht gerechnet.
Sie würde jetzt auch barfuß durchgehen und den Rucksack hinüberbringen. Das Wasser war eiskalt, ihre Füße waren sofort taub, sie spürte ihre Fußsohlen nicht mehr und der Sog riss einen Fuß bereits von seinem Stein, auf den sie ihn gesetzt hatte. Beim Aufprall auf dem anderen unter Wasser liegenden Stein spürte sie einen stechenden Schmerz, sie hatte sich geprellt. Also kletterte sie wieder an Land. Sie zwang den noch feuchten, schmerzenden Fuß genau wie den anderen wieder in die Bergschuhe.
„Ich hab Durst!“, hörte sie von hinten ein Rufen, fast unhörbar wegen des Tosens der Wassermassen, aber sie ignorierte die Stimme, sie band gerade unter Schmerzen ihre Schuhe zu. Und musste auf einmal an die Skikurse ihrer Kindheit denken, an sich selbst in einem hässlichen Skioverall, sie war noch so klein, dass sie nicht selbst damit auf die Toilette gehen konnte, sie lief wie ein kleiner Hund hinter den Skilehrern her. Jedes Jahr musste sie im Winter wochenlang diese Kurse besuchen, ständig erkältet, fiebernd mit Halsweh im Bus, dann der Winter mit den drückenden Skischuhen. Sie hatten ihr so wehgetan, hatten sie so gedrückt, auf den großen Zeh gedrückt, der ganz blau wurde, lila, aber sie war nicht auf die Idee gekommen, etwas zu sagen. Es war ihr nicht in den Sinn gekommen, dass ihre Pein irgendjemanden interessieren könnte. Und dann fiel der Zehennagel einfach ab. So klein war sie damals gewesen, so schutzbedürftig, so schutzlos, aber wo war eigentlich ihr Sohn? Als sie hinter sich blickte, saß da nur ihr kleines Mädchen, brav auf der Stelle, wo sie ihr befohlen hatte, sitzenzubleiben. Wo war der Junge? Schnell zog sie das Schuhband fest, blickte auf und da tänzelte er. Auf dem Felsbrocken, von dem der Mann vorher gesprungen war, balancierte ihr Junge, winkte und…sprang. Sie fühlte nichts. Keine Angst. Keine Scham, nicht die üblichen Gefühle. Darüber würde sie dann später nachdenken, dachte sie kurz, da riss ihr Kleiner schon triumphierend seine Arme hoch, auf seinem Felsbrocken, und grinste. Sie nickte anerkennend und bedeutete ihm mit der Hand stromabwärts mit ihr zu gehen, da sie sich in flacherem Gelände eine ruhigere Strömung versprach.
Sie setzte den Rucksack auf, nahm das Mädchen fest an der Hand. Sie schwankte nicht mehr. Sie ignorierte die Schmerzen in ihrem Fuß. Vorsichtig kletterte sie die Böschung abwärts, ganz langsam, ihr Sohn auf der anderen Seite tat es ihr gleich.
Weiter unten schien es eine geeignete Stelle zu geben, dort hatten sich bereits mehrere Wanderer auf die andere Seite gekämpft. Als sie mit ihrem Mädchen dort ankam, zogen einige bereits weiter in Richtung Hütte.
Sollte sie zu einer der Personen auf der anderen Seite um Hilfe brüllen? Würde man sie drüben überhaupt hören? Und war es jetzt schon eine Situation, in der sie Hilfe brauchte? Warum hatte sie sich denn vorgenommen, allein, nur mit ihren Kindern siebenhundert Höhenmeter zu wandern, ohne wenigstens einmal den Wetterbericht oder die Homepage der Hütte zu prüfen? Weil sie zu erschöpft gewesen war, daran zu denken?
Jetzt kletterte sie auf einen sehr erhöhten Felsen. Das andere Ufer lag in einem abschüssigen Winkel unter ihr.
Wieder schwankte sie auf dem Felsen, wieder sah sie sich mit dem Hinterkopf auf Steinen aufprallen, aber sie nahm vorsichtig den riesigen Rucksack ab, hielt ihn wie ein überdimensioniertes Wurfgeschoss, pendelte vor und zurück, sah, dass ihr Sohn sie aufmerksam beobachtete. Sie nickte ihm zu und dann schleuderte sie die schwere Last, soweit sie konnte, auf die andere Seite. Der Rucksack fiel weniger weit als sie gehofft hatte, aber er fiel in flaches Gewässer, und daher brüllte sie zu ihrem Sohn hinüber: „Zieh! Zieh ihn raus!“, und der Kleine verstand sofort. Er zog den Rucksack, der kurze Zeit zur Hälfte im Wasser gelegen hatte, die Uferböschung hoch.
Die Kleine saß wieder still auf dem Stein, klein, zerbrechlich und erschöpft.
Sie kniete sich vor dem Mädchen auf den Boden, wies sie an, auf ihren Rücken zu klettern, ihre Schuhe ließ sie jetzt an. Sie schrie dem Mädchen auf ihrem Rücken noch einmal zu, sich ja gut an ihr festzuklammern, und dann ließ sie sich mit Schuhen bis zu den Oberschenkeln ins Wasser gleiten. Langsam, Schritt für Schritt, bugsierte sie sich und das Gewicht auf dem Rücken durch die Strömung. Und nach einigen Momenten erreichte sie flacheres Gewässer. Dort auf den Steinen ließ sie die Kleine an sich heruntergleiten, ihr Junge kam zu ihnen geklettert, nahm seine Schwester an der Hand und zeigte ihr den sichersten Weg. Sie stand mit beiden Beinen im Wasser, spürte die Blicke der Kinder und der Bergsteigenden auf der anderen Seite. Sie ballte ihre Fäuste, warf ihre Arme hoch und brüllte. Brüllte laut gegen das Tosen des Wassers an. Brüllte wie ein Tier. Ein Master of the Universe. „Einen Tod muss man sterben“, dachte sie sich noch, bevor sie wieder die letzten Meter durch das knietiefe Wasser schritt, hin zu ihren Kindern.
Sie wusste zwar nicht, warum sie diesen Satz gedacht hatte und welcher Tod das sein sollte? War das der Tod gewesen, den sie als Kind innerlich fast gestorben war? Aber sie war nachgewachsen, beschädigt, aber lebendig und daher mehr als jeder andere in der Lage, es mit den Flüssen des Lebens aufzunehmen.
Darüber würde sie auch später nachdenken. Jetzt leerte sie ihre Schuhe, wrang ihre Socken aus. Dann warf sie sich den Rucksack auf den Rücken. „Los geht’s, Mausis! Mama braucht jetzt einen Kaffee!“, und sie setzten sich wieder in Bewegung.
Über Michaela Thunemann (@mimikrithu):
Ich bin eine Deutsch- und Geschichtslehrerin, habe zwei Kinder, lebe in einer Kleinstadt vor München und schreibe intensiv Lyrik bzw. immer öfter Prosa. In meiner Freizeit bin ich relativ neu im Redaktions- und Moderationsteam der Radiosendung "Landmann liest. Literatur und Musik" auf rockradio.de tätig, am 5.7. war ich mit einigen meiner Gedichten auf einer Lesung in der Kunstklinik Hamburg auf dem "Das_lyrische_Foyer_Festival" vertreten. Am 01.07. habe ich endlich eine Schreibwerkstatt gefunden im Kulturzentrum Giesing unter der Leitung von Alicja. Und angeregt vom Schreibtreff ist dieser Text entstanden.
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