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Hallo Alexandra

Erik Klüssendorf-Mediger

von Leo Hoffmann Ein Text, der nicht nur die Worte eines Briefes behandelt, sondern auch das beleuchtet, was zwischen den Zeilen verborgen liegt.


 

Liebe Sascha – nein, „lieb“ geht nicht und „Sascha“ geht auch nicht. Nicht nach dieser Szene in der Diele. Sie reißt das Blatt vom Block. Es segelt auf den Boden, zu den anderen, die da schon liegen.

 

Hallo Alexandra, schreibt der Füller. Schon besser: Ein Allerwelts-Ton mit der Qualität einer rot-weiß-gestreiften Schranke. Sie hätte diese Barriere sein müssen. Stattdessen hatte sie sich auch noch Honig und Marmelade in die Hand drücken lassen. Wie bescheuert!

 

Hallo Alexandra. Ob Sascha den Schlagbaum, der diese Anrede ist, erfassen wird? Fraglich! Sie seufzt und setzt den Füller wieder an. Sie hätte anderes zu tun: Wäsche, Einkauf, Spülmaschine, in zwei Stunden zur Mittagsschicht im Hort. Warum ihn nicht einfach lassen, diesen Brief, der sie nur aufhält?


Weil. Weil sie zu viele dieser Situationen kennt: Zu baff, um die Ellenbogen auszufahren, wahlweise die Zunge. Zu überrascht. Zu schwerfällig. Nicht mehr „zu“ sein, darum geht’s.

 

Ich habe eine Tasche mit Susannes Kleidern in dein Büro gebracht. Ich gebe auch Honig und Marmelade zurück. Dein Assistent hat alles entgegengenommen. Sich abspeisen lassen? Diesmal nicht! Schneller gleiten die blauen Schleifen und Satzzeichen aus dem Füller auf’s Papier. Ja, sie war nicht Tochter wie Sascha und Natascha, nicht Schwiegertochter wie Ida, nur Nichte. Sie hatte keinen Anspruch auf das Erbe.


Sie hatte immer dankbar angenommen, was Tante Susanne ihr überlassen hatte, an Zuwendung, an abgelegter Kleidung. Besser sie als Oxfam. Das schmeckte schal, klar. Schmeckte Liebe nicht immer schal? Für sie ja. Für keinen ihrer Männer war sie die erste Wahl gewesen. Auch für Ignacio nicht. Wer hatte damit gerechnet, dass aus dieser Aufenthaltserlaubnis-Ehe zwei Kinder hervorgehen würden? Sie am wenigsten. Das zum Thema „gebraucht“: Es bedeutet zu eng, häufig getragen, unmodisch für die Gebenden. Für die Nehmenden bedeutet es weich vom Waschen, gut gealtert, und im Falle von Tante Susanne hochwertiger und eleganter als alles in ihrem Kleiderschrank. Wie Ignacio eben: Er war zu groß für sie, zu laut, zu lebhaft, er war abgegriffen, aber er war da.

 

„Konzentrier dich“, murmelt sie, zieht den Füller weiter über die Seite: Die Glasperlenketten und die Ohrhänger habe ich zu den Kleidern dazugelegt.

Sascha hatte sie ihr hingeschoben, als sie nach den Kleidern den Schmuck verteilt hatten. Zu fünft waren sie um den Esstisch gesessen: Sascha, Natascha, Boris, seine Frau Ida und sie. Erst wenn niemand die Hand ausstreckte, wenn das Schweigen angesichts all dieser nun herrenlosen Ringe, Anstecker, Ketten und Ohrringe sich verdichtet hatte, hatte sie halblaut gesagt: „Die hätte ich gerne“. Zweimal hatte sie auf verschnörkelte Broschen gezeigt, die ihr gefielen, weil sie aus der Zeit gefallen schienen. Beide Male hatte Sascha die Stücke an sich genommen: „Die sind von Oma Selma.“ Wie Schläge auf ihre Hand. Kantiger Schmerz. Sascha und ihre Oma hatten ein enges Verhältnis gehabt, so eng, dass ihre Wünsche nicht dazwischen passten. So war es eben.

 

Was Sascha ihr freiwillig hingeschoben hatte, war Modeschmuck. Passend zu einem Kleid, das längst zerhackt, geschreddert oder gemahlen, zu neuem Garn gesponnen war. Aber Tante Susanne hatte ihn getragen. Und deshalb hatte sie die überbunten Ketten und Ohrringe gerne genommen. Sie waren ein Lächeln in der Asche der Urne. Als wüchse eine Hand aus dem mit Buchenlaub bedeckten Boden des fränkischen Friedwalds und winkte ihr zu. Nur ihr.

 

Den Bernstein-Ring wollte keiner am Esstisch. Also hatte sie ihn zum Weiten zur Goldschmiedin gebracht. Ich habe ihn inzwischen ändern lassen, lauten die diesbezüglichen Zeilen, deshalb möchte ich ihn behalten.

„Möchte“ – ein lahmes Wort! Sie streicht es durch, schreibt „werde“ darüber. Deshalb werde ich ihn behalten. Eine Ansage! Hoppla! Sie hatte die ältere Cousine beneidet, nicht nur um ihre Mutter. Neid macht keine Ansagen. Neid macht, dass man sie befolgt. Sascha saß im Stadtrat. Sascha organisierte landesweite Demos. Sascha baute eine alte Remise zum Kulturzentrum aus – denkmalschutzgerecht. Sascha schrieb Petitionen, organisierte Streiks, Panels, Podiumsdiskussionen, kannte Arbeitnehmerrechte wie niemand sonst. Sascha erzog ihre Tochter Mika allein und hatte wechselnde Begleiter, die nach Macht rochen. Sie hatte nie verstanden, dass Rudji seine rothaarige Älteste als „Dickschädel“ beschimpfte, als „Sturkopf“. Hätte er ihre Durchsetzungsfähigkeit gefördert, statt ihren Widerspruchsgeist zu unterdrücken, wäre Sascha heute Kanzlerin, hatte sie gemutmaßt. Einmal, als Rudji die Eigenmächtigkeiten seiner Ältesten gegeißelt hatte, hatte sie diese These laut geäußert. „Ja, das glaubst du“, hatte Rudji ihr hingeworfen, Bitterkeit im Tonfall.


Sascha bewegte viel. Aber nicht ihren Vater zur Wertschätzung. Das hatte ihr leidgetan. War es der Grund für Saschas Anstrengungen auf der öffentlichen Bühne? Möglich. Aber nicht das Thema dieses Briefes. Im März hat Boris Dir eine Tüte mit Schal und Schachtel mitgegeben, für mich. Anspruch geklärt. Reichte das, wenn sie die Schachtel haben wollte? Die Schachtel mit der Gliederkette, die Boris inzwischen repariert hatte und den Perlen, die Ida lieber ihr zudachte, als sie selbst zu tragen.


Sascha konnte alles. Aber nichts gegen die mangelnde Wertschätzung ihres Vaters. Deshalb setzt der Füller nach: „Die Lacroix-Armbanduhr“ – eine von mehreren – „hat Rudji mir gegeben“. So! Hört sie sich selbst seufzen: Anspruch geklärt. Auf das, was sie hatte. Reichte das, wenn sie die Schachtel haben wollte? Die Schachtel mit der Gliederkette und den Perlen? Nein!

 

Mehrmals hatte sie versucht, mit Sascha einem Treffen auszumachen, um die Tüte mit Schal und Schachtel abzuholen. Das war natürlich nicht leicht, angesichts ihrer Arbeitspläne und Saschas Terminkalender. Diesmal war es besonders zäh. Zäher, als wenn Sascha sie ins Seehaus einlud, „damit Du auch mal rauskommst!“, oder in die Oper. Am Sonntag endlich hatte sie es nach Solln geschafft. In der Diele ihrer Altbauwohnung stand Sascha ihr gegenüber. Hatte es eilig. Drückte ihr die Tüte in die Hand. „Für Anne“ stand auf dem braunen Papier. Daneben hatte Ida, Illustratorin mit jeder Faser, einen Fliederzweig gemalt. Der Schal in der Tüte war fliederfarben. Und einsam. Sie blickte Sascha an. Sascha lächelte breit. Sie sah ihre eigene Hand in der Tüte herumrühren, um etwas anderes zu greifen als Wolle. Da war Papierknistern. Da war Schal. Sonst nichts. Ein Abgrund. An dessen Rand sie hing. „Da fehlt was“, tasteten ihre Zehen nach Halt. Sascha schürzte die Lippen und rührte sich nicht. Sie griff nach einer Wurzel. Schob sich nach oben. Suchte eine Stütze für ihre weichen Kniee. Sie hätte sich gerne fallengelassen. Genausogut hätte sie sich mit der Gliederkette erhängen können.


„Die - schwarze - Schatulle - fehlt“, presste sie hervor. Vier Worte. Sie halfen ihr, sich hochzurappeln. Einer Schlagzeile gleich prangten sie in der hohen Diele. Eine Feststellung, an der sie sich hielt, wie am Seil eines Hubschraubers der Bergwacht. Sie wankte, aber sie stand. Stand, bis Sascha in ihr Arbeitszimmer stampfte, mit einer schwarzen Schatulle in der Hand zurückkam, sie öffnete, ihr die Perlen und die Kette darin zeigte, den Deckel wieder auflegte: „Die behalte ich für Mika. Sie hat nichts bekommen.“ Die Diele füllte sich mit Worten und Widerworten. Ihre sachlich und langsam, die von Sascha schnell und laut. Schließlich hatte Sascha ihr Honig und Marmelade, beides vom Feinkost-Käfer, in die Hand gedrückt und sie aus der Doppeltür ins Treppenhaus geschoben.

 

Ich habe eine Weile gebraucht, bis ich mich von meiner Sprachlosigkeit angesichts Deines Verhaltens erholt habe. Deshalb schreibe ich Dir jetzt, wirft der Füller auf die Blockseite. Dass sie vor Demütigung geweint hatte, ging Sascha, die jetzt für immer Alexandra sein würde, nichts an.


Du öffnest eine an mich gerichtete Tüte und untersuchst den Inhalt. Das ist, gelinde gesagt, übergriffig. Du nimmst die schwarze Schachtel an Dich. Unterschlägst sie. Du holst sie erst, als ich Dich darauf hinweise, dass etwas fehlt. Übersetzt: Du stiehlst. Bestiehlst mich! Bestimmt kannte Sascha die Gesetze für Eigentumsdelikt. Das, kritzelt der Füller werde ich so schnell nicht verdauen.


Sie war es ihrer Cousine nicht wert, ehrlich zu sein. Mit welchem Verhalten hatte sie Alexandra zu dieser Erniedrigung verleitet? Weil sie ihre Einladungen auf Blinis und Bellinis jeweils gerne angenommen hatte? Weil sie sich für Geschenke bedankt hatte, die denen ähnelten, die Alexandras Mitarbeiterinnen bekamen, absetzbar von der Steuer?


„Anne“, hatte Ignacio gepoltert, „hör auf. Usted es un desastre. Such die Verantwortung für Saschas Verhalten bei Sascha, nicht bei Dir.“

 

Dann schiebst Du Deine Tochter vor, setzt der Füller neu an, behauptest, Mika sei leer ausgegangen. Du hast das Armband mit der Widmung für sie genommen sie hätte dieses Armband gerne gehabt –, die Broschen von Oma Selma, die Kette mit den nussgroßen Steinen, die Uhr mit dem Silberband und ... Das Häufchen vor Sascha war rasch gewachsen. Du hast Dir als erste ausgesucht, was Du wolltest. Ida und ich nahmen nur, womit Ihr Geschwister einverstanden wart. Ida bekam die Perlen und gibt sie nun an mich weiter.


„Ida hat gar nichts zu bestimmen“, hatte Sascha in ihrer Diele geschnauzt. Diese Unverschämtheit war erleichternd: Es gab andere, mit denen Alexandra ebenfalls machte, was sie wollte.


Als Ihr den Schmuck geteilt habt, hast Du zugestimmt, dass ich die Gliederkette erbe. Ich habe sie sogar angelegt. ‚Steht dir gut’, war Eure Reaktion. Boris hat sie nur mitgenommen, weil der Verschluss klemmt. Das habe ich Dir am Sonntag erklärt, wortwörtlich. Du hast es ignoriert! Boris und Ida waren schockiert, als sie berichtete, dass sie ohne Schachtel in die S-Bahn gestiegen war. Natascha hatte gelacht: „Typisch Alexandra!“ Auf einmal hatte sie die Seite ihrer Cousine gesehen, die Onkel Rudji verbitterte.


Über Jahre hast Du Dich mir gegenüber nett und großzügig gezeigt, steht es blau auf weiß auf ihrem Blatt. Denn das stimmt. Am Sonntag warst Du das Gegenteil: gierig, verlogen, rechthaberisch und machtvollkommen. Das stimmt auch. Vorder- und Rückseite. Das Ende ist leicht: Mit dieser Seite von Dir möchte ich nichts zu tun haben! Anne


Wieder lahmt da ein „möchte“, nun allerdings hinter einer Vorhut von schneidenden Wörtern, die erfassen, was nicht rückgängig zu machen ist. Auch nicht, wenn Alexandra durch das Loch schlüpft, das der Füller ihr jetzt öffnet: P.S. Ich erwarte Deine Entschuldigung. Ich hole die Schachtel am Freitag um 16 Uhr ab.


20 Minuten bis Schichtbeginn. Ein Briefkasten steht an der Kreuzung neben dem Hort.


 


Über Leo Hoffmann:

Ich lebe in München und schreibe: Audioguides für Museen, Beiträge für's Münchner Feuilleton, Features für den Bayerischen Rundfunk, am liebsten aber Kinderbücher und Geschichten über die Maximiliansanlagen oder andere dramatische Gegebenheiten.

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