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Leonie Winter

Ist der neue Stuckrad-Barre seinen Hype wert?


Noch wach?


Noch wach (2023, Kiepenheuer & Witsch Verlag) ist der neue Roman von Benjamin von Stuckrad-Barre und hält sich momentan auf den oberen Teil der SPIEGEL-Bestsellerliste. Ich habe mich nun gefragt, ist das Buch lesenswert und sein Hype gerechtfertigt?

Es geht um aktuelle Themen: #metoo, Drogenkonsum, Kapitalismus, Machtverhältnisse zwischen den Geschlechtern, Medienskandale.

Vorneweg schreibt Benjamin von Stuckrad-Barre, dass die Geschichte fiktiv sei und sich nicht an realen Verhältnissen orientiert. Wer sich aber besser mit Benjamin von Stuckrad-Barre auskennt, weiß vielleicht, dass der Autor eine Zeit lang beim Axel Springer Verlag tätig war und in dieser Zeit zum engen Freund von Vorsitzenden Mathias Döpfner wurde, der wiederum große Stücke von Chefredakteur Julian Reichelt hält. Jener Chefredakteur von BILD soll seine Macht bei Mitarbeiterinnen ausgenutzt haben und diese sexuell genötigt haben. Die Frauen waren von ihm abhängig. Mittlerweile gibt es eindeutige Belege und auch journalistische Berichte dazu.

Es verhält sich nun aber so, dass Noch wach? Genau jene Thematik aufgreift und man einige Parallelen zur Realität ziehen kann. Der Erzähler, ehemals drogenabhängig, ist eng befreundet mit einem Vorsitzenden aus einem großen Medienhaus, hier handelt es sich aber um einen Fernsehsender – im Gegensatz zur Realität. Zugleich freundet sich der Protagonist mit Sophie an, die dort arbeitet. Alles klingt gut, sie ist glücklich in ihrem Job dort. Sie wird sehr gefördert, insbesondere von einem gewissen Chefredakteur – als Lesender merkt man aber: Das ganze klingt zu gut, um wahr zu sein.

Gleichzeitig wird Hollywood von der Weinstein Affäre erschüttert und die MeToo-Bewegung zieht ihre Kreise, um die Welt.

Auch Sophie wird diesem Thema aufmerksamer und bittet den Erzähler um Hilfe, der sich plötzlich inmitten eines persönlichen, aber auch politischen Konflikt befindet.

So viel erstmal zum Inhalt.

Der Bezug zu unserer Zeit, alleine Akteure, die vorkommen, aber auch eben das (mögliche) Entspringen aus Stuckrad-Barres Leben, wird schnell deutlich. Immer wieder musste ich mich beim Lesen erinnern, dass es hier nichtum die Julian Reichelt Affäre geht, nicht um den Axel Springer Verlag und versuchen mich auf das Buch als Fiktion einzulassen. Dennoch das Auftauchen von bekannten Persönlichkeiten etc. hat mir gut gefallen und lässt die Grenze zwischen literarischer Welt und Realität verschwimmen. Nur eben wollte ich nicht den Erzähler mit Benjamin verwechseln und gleichsetzen.

Der Erzähler und ebenso der Freund (der Vorsitzende des Medienkonzerns) tragen beide keine Namen und bleiben sozusagen anonymisiert, stehen vielleicht als Bild für gewisse Menschen und sollen austauschbar sein.

Das Buch ist mehr oder weniger in zwei Teile geteilt. Am Anfang fokussiert sich die Erzählung stark auf die Freundschaft der beiden, man lernt den Erzähler kennen – der teils chaotisch, humorvoll, aber öfters auch unsymphatisch erscheint. Wir lernen das legendären „Chateau Marmont“ kennen, bei denen sich Leute Hollywoods und weitere vor der Realität zurückziehen. Doch auch hier sickert #MeToo ein, auch hier wird der Erzähler mit dem systematischen Ausnutzen und Missbrauch von Frauen konfrontiert.

Wir lernen in Noch wach auch die Boulervardpresse kennen und S.B. beschreibt diese treffend: „ Je schlimmer die Nachrichten, desto besser die Laune“ (Ebook S. 58) Alles und jeder wird hier ausgenutzt, ins falsche Licht gerückt, bedrängt und Weiteres.

Die Freundschaft der beiden erläutert der Erzähler folgendermaßen: „Ich musste meine Freundschaft zu ihm oft erklären gegenüber anderen, die in ihm einen KALTEN, BIGOTTEN KAPITALISTEN und so weiter sahen, und den sah ich natürlich auch, aber da guckte man doch bitte noch weiter, da hörte man doch noch nicht auf mit dem Gucken, das konnte doch nicht schon alles sein.“ (S. 65)

Es stellt sich hier natürlich auch die Frage, wie Freundschaften zu werten sind, wenn diese nicht die gleichen Ansichten, wie man selbst hat. Gibt man diese dann auf? Das stellt sich der Erzähler auch. Worin liegt der Wert einer Freundschaft?

Stück für Stück entfernen sich die beiden, je mehr sich der Erzähler mit Sophie annähert und deutlicheren Einblick in die inneren Affären innerhalb des Senders erhält.

Sophie ist anfangs nicht eindeutig bewusst, dass der Chefredakteur seine Macht ausnutzt, für sie ist doch auch ein Vorteil dabei, bis sie sich schließlich vor dem Erzähler öffnet: „Und dass das alles aber irgendwie schon so ne Art Gegengeschäft ist, das merkst du eigentlich erst, wenn plötzlich Schluss ist, wenn er das Interesse an dir verliert, vielleicht auch, weil du irgendwie unbequem wirst, halt DIE SCHWIERIGE oder so – und dann wirst du eiskalt aussortiert. Und du kannst dich natürlich nirgends beschweren, weil du dann ja dastehst wie ne Prostituierte, wenn du eben eine Weile lang reingefallen bist auf ihn und mitgemacht hast bei dem, was du erst jetzt als Spiel begreifst“ (Ebook S. 104)

Die Darstellung der missbrauchten Frauen, Sophie und weitere aus dem Sender, wirkt auf mich recherchiert und real dargestellt: die Gefühle, die Gedanken, die miteinhergehen. Kann man damit an die Öffentlichkeit, bewirkt man damit etwas oder wird man von den Medien doch wieder nur durch den Dreck gezogen?


S.B.s Schreibstil war für meinen Geschmack etwas anstrengend zu lesen: wir haben hier sehr viel Stream of Conciousness, schnelle Gedankengänge, die sich gegenseitig unterbrechen und zwischendurch immer alles in Majuskeln geschrieben, was bewirkt, dass gewisse Wörter einen förmlich anschreien beim Lesen. Einerseits ein cooler Effekt, doch in Verbindung mit den sowieso langen, sich hinziehenden Sätzen, manchmal etwas too much. Auch die Redeart der Charaktere untereinander hat sich nicht sehr deutlich voneinander unterschieden.


Jan Böhmermann formulierte das Buch als eine Art “Rausreden” von S.B.s Rolle in der Axel Springer Affäre, doch wenn man das Buch mal abgekapselt liest von den wirklichen Umständen, ist es wichtig. Realitätsnah zeigt es die Auswirkungen von Machtmissbrauch, insbesondere in der Medienbranche, und wie viel Arbeit leider noch getan werden muss, um diesen Missbrauch einzuschränken und Frauen eine gleichberechtigte Rolle in unserer Gesellschaft zuzugestehen.

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