von Sabrina Laue. Ein Text über die Lästigkeiten des Erwachsenwerdens und das Prokrastinieren.
Seit geraumer Zeit läuft die Spülung unserer Toilette nach. Eines Tages hat es angefangen. Jemand hat die Spülung betätigt, das Wasser lief los und lief einfach weiter, übers Ziel hinaus. Wieso weiß ich nicht, anders als ein Wasserhahn sollte die Spülung eigentlich wissen, wann Schluss ist. Wann genug Wasser durchgelaufen ist, um alles wegzuspülen, zu reinigen. Seit geraumer Zeit weiß das unsere Spülung nicht mehr. Jedes Mal, wenn ich an der Badtüre vorbeilaufe, höre ich das Rinnen des Wassers, zwar leise, aber beständig. Es rinnt und rinnt und hört nicht auf, scheint nicht aufhören zu können und unter einem abstrusen Zwang zu stehen, immer weiter zu laufen. Kraftlos, verschwindend, aber immer noch genug da, um nicht aufzuhören.
Die Toilette ist nicht die einzige Baustelle in unserer Wohnung, daneben ist die Spüle in der Küche verstopft, die Waschmaschine weigert sich bei 60 Grad zu schleudern und seit einem gefühlten Vierteljahr wird ein neuer Aufzug in unserem Treppenhaus installiert. Jeden Morgen grüße ich die Handwerker und lächle über das kleine Radio, auf dem ein italienischer Popmusik-Sender auf voller Lautstärke läuft. Die Frage, wann der Aufzug fertig wird, stelle ich ihnen und mir seit einiger Zeit nicht mehr.
Von all diesen Baustellen ist mir die Toilette am unangenehmsten. Am Anfang habe ich meine Freunde noch vorsichtig darauf hingewiesen, irgendwann Scherze darüber gemacht. Jetzt schweige ich auf ihre Fragen, ob das denn immer noch so sei und wieso wir das nicht mal reparieren ließen. Denn ich habe keine Antwort. „Das ist doch kein Zustand“, sagt meine Mutter am Telefon, als ich ihr widerwillig antworte, dass das mit der Toilette immer noch so sei. „Ja“, sage ich und wechsle das Thema. „Der neue Aufzug ist fast fertig“, sage ich, obwohl mir seit Tagen kein erkennbarer Fortschritt mehr aufgefallen ist.
Die Toilette läuft seit Wochen, vielleicht sogar schon Monaten nach, und nichts passiert. Nichts passiert in diesem Haushalt, alles wird schulterzuckend hingenommen. Irgendwann, nachdem man sich anfangs noch gestört hatte, wurde es akzeptiert. Auch ich habe es akzeptiert, obwohl ich mir das nicht eingestehen will. Gern wäre ich die Erste gewesen, die den Handwerker ruft, oder sich ein Youtube-Tutorial anschaut und das Ganze einfach selber repariert. Eine neue Dichtung, ein paar Handgriffe reichen aus – und das Problem ist behoben. Das spiegeln mir zumindest meine Freunde, ChatGPT und die Handwerker Community auf Instagram wider. Und ich denke: „Sie haben doch recht.“ Einfach ein paar Sachen besorgen und sich mal ran setzen. Einfach mal einen Handwerker nicht nur grüßen, sondern anrufen und einen Termin vereinbaren. Und doch schaffe ich es nicht.
Die Toilettenspülung verschwindet auf der Liste meiner To-Dos zwischen anderen Punkten, die sich in einer fragwürdigen Reihenfolge nach Priorität sortiert haben, und sich laufend erweitern. Ich versuche die einfachen Aufgaben zuerst zu erledigen, zuerst Ordnung in meinem Zimmer zu schaffen, bevor ich in meine Gedanken aufzuräumen beginne. Ich wasche Wäsche bei 40 Grad, schiebe Papierstapel zusammen, putze, bringe Altglas weg. Nachdem ich das getan habe, reicht meine Kraft nicht mehr, für die wirklich wichtigen To Dos, die sich dann ganz plötzlich, während man sich nur kurz aufs Bett fallen lassen und ausruhen möchte, auf der Liste ganz nach vorne kämpfen und wie ein stechender Schmerz in meine Gedanken einfallen. Auf das Schreiben der GEZ antworten, jetzt wo ich umgezogen bin, und mich endlich umgemeldet habe. Die Rechnung für die Zahnreinigung überweisen. Noch mehr Sachen überweisen. Diese und jene Zugtickets kaufen, bevor sie jeden Tag – jede Sekunde – teurer werden. Der einen Freundin endlich schreiben, der man seit fast zwei Monaten nicht auf die Sprachnachricht geantwortet hat, und die einen bestimmt schon hasst. Ein Punkt löst den anderen ab. Ich aber liege im Bett, ganz still, wie festgefroren, bis mich endlich mein Harndrang von dem gnadenlosen Überfall meiner Gedanken befreit.
Ich gehe auf die Toilette. Wieder das Tropfen, das leise Rauschen. Ein leises Klagen: „Du hast mich immer noch nicht repariert.“ Und die andern rufen: „Du hast mich immer noch nicht überwiesen!“ Bis sogar die Zahnarzthelferin anruft: „Sie haben das Geld immer noch nicht überwiesen – das sind jetzt bald zwei Monate!“ und man stammelt, denn der Anruf hat einen überrumpelt: „Das tut mir leid, die Rechnung muss wohl irgendwie untergegangen sein.“ Untergegangen, runtergespült mit dem Gedanken, die Toilette zu reparieren.
Ich überlege zu erklären, dass mir die Rechnung nicht untergegangen ist, dass sie seit zwei Monaten auf meinem Schreibtisch liegt, ich sie sogar seit einigen Tagen mit mir im Rucksack herumtrage, in der Hoffnung, untertags Zeit für sie zu finden. Sie dabei aber nur mehr und mehr zerknittert und ich sie, wie den Apfel, den man einsteckt und vergisst, Tag für Tag wieder mit nachhause trage, sie sehe, im Rucksack lasse für den nächsten Tag. Dass ich vielleicht gestern Abend Zeit für die Rechnung gehabt hätte, aber stattdessen endlich mal wieder ein paar Postkarten geschrieben habe, die ich schon lange schreiben wollte, und dann keine Kraft mehr hatte, mich in mein Bankkonto einzuloggen, die nötigen Zahlen einzugeben und auf einen Button zu klicken. Ich überlege und denke: „Nein. Es ist einfach untergegangen.“ Dabei habe ich es ziemlich bewusst untergehen lassen, denn die Punkte, die untergehen, tauchen im Sekundentakt wieder auf.
Nachdem ich aufgelegt habe, setze ich mich an meinen Laptop und überweise die Rechnung. Ich hole den Brief heraus, logge mich in mein Bankkonto ein, tippe die nötigen Zahlen ein und klicke auf den Button. Ich bestätige die Transaktion in meiner App. So schwer war das gar nicht, denke ich. Und die GEZ und die Zugtickets rufen, benachteiligt wie sie sich fühlen, dass ich mich auch um sie kümmern soll. „Genug geschafft für heute“, denke ich, und verlasse die Wohnung für einen Spaziergang. Einfach mal raus, kurz an die frische Luft. Vor der Wohnungstür grüße ich die Handwerker und gehe die Treppe hinunter. Ich laufe die Straße entlang hin zu einer kleinen Grünanlage. Ich trage Sandalen, die ich mir vor Kurzem gekauft habe, und genieße das Gefühl von Luft an meinen Füßen. Ich blicke nach unten, auf meine freien Füße. Mir kommt der Gedanke, dass ich mit meiner Person viel mehr das Bild meiner Schuhe, als mein eigenes Spiegelbild verbinde. Die Sicht von oben auf meine Füße, wie sie dastehen, sich heben und senken, nervös auf und ab tippen, oder sich vor Langeweile kreisen. Der Blick auf meine Schuhe kommt mir manchmal wahrer vor als der in mein Gesicht. Keine Spiegelung, kein Abbild, keine Projektion.
Ich komme nachhause, im Ohr noch die italienische Popmusik. Mein Mitbewohner ist da und hat seinen Vater zu Besuch. Ich grüße und gehe auf Toilette. Sofort bemerke ich, dass etwas anders ist. Doch erst nachdem ich ein paar Sekunden in mein ratloses Spiegelbild geblickt habe, wird mir klar, was mich irritiert: Die Toilette ist still. Ich blicke in die Schüssel – das Wasser liegt ruhig da, fast wie zufrieden, im Reinen mit sich selbst. Die Spülung funktioniert einwandfrei, als ich sie betätige, und nach ein paar Sekunden hört der Wasserfluss auf. Als ich in die Küche komme, ist der Vater von meinem Mitbewohner gerade dabei, die Spüle auseinander zu nehmen. „Mein Papa hat die Toilettenspülung repariert“, sagt mein Mitbewohner und reicht seinem Vater ein Werkzeug, das er verlangt. „Das war wirklich kein Zustand“, sagt er und hantiert wild mit dem Werkzeug, dessen Namen ich nicht kenne. „Ja“, sage ich und denke: „Trotzdem schade irgendwie.“
Über Sabrina Laue (@sabi.ella):
Hat Literatur studiert und arbeitet in einem Kunstmuseum. Schreibt und verliert sich gern in sprachlichen Winkelzügen.
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