Mit dem Thema "Körperlich" unserer neuesten Ausgabe, die im Februar '23 erschien, erreichten uns zahlreiche Einsendungen, die wir aufgrund begrenzter Seitenanzahl leider nicht alle veröffentlichen konnten. Dennoch möchten wir Euch ein paar ausgewählte Schätze nicht vorenthalten und starten deswegen eine kleine Serie auf dem Blog mit dem Titel "Körperlich", um dieses Thema noch etwas nachzufühlen und den Gedankengang langsam ausklingen zu lassen.
Viel Spaß dabei!
Narben- Makel oder Individualität?
ein Essay von Ingrid Ruesch
In unserer Gesellschaft spielt das Aussehen des Körpers und die damit verbundene Perfektion noch immer eine große Rolle. Das Streben nach dem einen Ideal wird vor allem durch die Medienwelt maßgebend angekurbelt und gilt für viele Personen, wenn auch dem Natürlichen nicht mehr nah, als erstrebenswertes und ideales Vorbild.
Aber ist nicht jeder Körper auf seine Art ideal? Und wäre er ohne einzigartige
Merkmale nicht weniger individuell?
Da stehe ich also vor dem Spiegel und irgendetwas in mir macht kritisch „Hm“, beim Anblick eines Beispiels für solch einzigartige Merkmale eines Körpers: Narben.
Die damit einhergehende Frage ist, ob sie in einer Gesellschaft, die ihre Idealbetrachtung auf die eines makellosen Körpers fokussiert, überhaupt einen Platz finden können, um normal behandelt zu werden und nicht wie oftmals: tabuisiert.
Bedeuten Narben also Verlust von Körperidealen oder sind sie ein Ausdruck von
Individualität?
Ich stehe vorm Spiegel und stelle mir diese Frage. Dabei ist doch klar:
Alle kennen sie und vermutlich alle tragen sie irgendwo, die Narben. Wenn die
Wunde auch noch so klein ist, kann es zu Narbenbildung kommen. Dies geschieht besonders bei Verletzungen mehrerer Hautschichten. Narben sind als Teil der Wundheilung zu verstehen. Eigentlich sind sie ganz normal und gehören zu uns, denn wenn Hautzellen zerstört wurden, werden sie durch weniger elastisches Gewebe ersetzt, welches oft als Narbengewebe sichtbar zurückbleibt.
Es gibt verschiedene Arten von Narben und natürlich auch verschiedene Ursachen. Neben Unfällen ( z.B. Verbrühung, Verbrennung, Biss, Schnitt) und medizinischen Eingriffen, gibt es natürlich auch unsichtbare „seelische Narben“ und keinesfalls vergessen werden sollten die Narben der Selbstverletzung.
Auch gibt es Narben, die aus kulturellen Aspekten absichtlich erzeugt werden, z.B.
bei der Skarifizierung. Was das ist?! Ich habe gelernt:
Skarifikation kommt aus dem lateinischen Sprachgebrauch „scarificatio“ und bedeutet das „Ritzen“ / das „Schröpfen“. Man versteht darunter das absichtliche Einbringen von Narben auf den Körper zum Zwecke der Zierde.
Besonders in Teilen Afrikas sind Ziernarben noch immer weit verbreitet. Die narbig verheilten Wunden werden sichtbar und mit Stolz getragen.
Da die Anbringung der Schmucknarben aber zum Beispiel nicht nur der Zuordnung zu einem Stamm dient, sondern gerade bei Frauen als Kennzeichen für ihr heiratsfähiges Alter dient und die Hygiene beim Ritzen meist nicht eingehalten werden kann, lässt sich dieser Teil der kulturellen Tradition teilweise berechtigt als etwas Fragwürdiges verstehen.
Was in verschieden Völkern Tradition bedeutet, ist bei uns neben der Tätowierung
mittlerweile zu einem Trend geworden. Sogenannte „CuttingTattoos“ werden hierbei zur Zierde in die Haut eingeschnitten.
Manche Menschen sehen darin also bewusst die Ästhetik, wobei im Alltag und vor
allem online etwas ganz anderes auffällt:
Eine Narbe bei männlichen Personen findet schnell stärkere (Selbst-) Akzeptanz, da sie dort als Symbol des Mutes und der Stärke interpretiert wird. Ich sehe eine
mögliche Begründung darin, dass von Frauen häufig noch erwartet wird, „rein“ zu
sein- und dies gilt ganz besonders in Bezug auf den Körper.
Da stehe ich also vor dem Spiegel und irgendwas in mir macht kritisch „Hm“ beim
Anblick meiner Narbe.
Da die Gesellschaft und das in den Medien vorgelebte Körperbild die jeweilige,
eigene Denkrichtung ankurbelt, verbinden Personen unterschiedlichen Geschlechts vermutlich auch unterschiedliche Emotionen mit ihren eigenen Körpern und Narben.
So auch ich.
Also bedeuten Narben Verlust von Körperidealen?!
Ich denke: „Jein!“
Denn irgendwie wird klar, dass in einer Gesellschaft, die das Ideal eines Körpers in
der Betrachtung eines makellosen Körpers wiederfindet, Makel und somit Narben keinen Platz haben. Sie sind dann „Fehler“, die uns gegenüber dem Ideal immer
wieder „unperfekt“ sein lassen und können somit in unseren Kulturkreisen nicht als „Normal“ gelten. Aber was ist schon „normal“? Sind sie nicht doch ein Ausdruck von Individualität?!
Wenn der idealisierten und der oft unreellen Perfektion der Körpervorstellung nicht allzu viel nachgegangen wird, so kann die Wahrnehmung auf den Körper
bedingungsloser erfolgen und Narben werden als Teil davon wahrgenommen, ohne welchen der Körper nun mal nicht der eigene Körper wäre.
Betrachtet man auch die verschiedenen Ursachen und somit Assoziationen, so fällt auf: Ganz egal ob mit positiver oder negativer Verbindung; hinter jeder Narbe steckt ein spezifisches Erlebnis, was durch die Narbe hindurch die Individualität des einzelnen Individuums zur Geltung bringt.
Eine Narbe, sicht, unsicht- oder nur fühlbar, zeugt, egal welcher Ursache sie ist, von Schmerz und Verletzlichkeit.
Vielleicht ist das ein weiterer Grund, weshalb viele Menschen auf Narben eher mit
tabuisierendem Verhalten und Verunsicherung reagieren.
Denn wer eine Narbe trägt, der hat ein Leben und somit eine Geschichte und wer die Narbe ansieht, der blickt im Grunde der Vergänglichkeit und Verwundbarkeit unserer Körper ins Gesicht.
Genau in diesem Moment stirbt die gelebte Idealvorstellung des Köpers.
„Hm“ mache ich nochmal.
Aber vielleicht wird auch etwas geboren: Aus einem „Ideal“ wird eine vielseitige „Individualität“, die uns nun einmal ausmacht und zu uns gehört,
so wie es auch die Narben tun.
Da stehe ich also vor dem Spiegel und mein linkes Auge zwinkert mir beim Anblick meiner Narbe zu. „Okay. Ganz egal ob als ein Teil der Wundheilung, zwischen Kultur und Körperkult bei der Skarifizierung entstanden, durch Verletzungen- und seelisch: Narben gehören zum Leben dazu. Narben sind okay.“ Oder?!
Collage von Ingrid Ruesch
Danke
Ingrid Ruesch
2000 in Süddeutschland, nahe der Grenze zu Frankreich und der Schweiz geboren. Schon früh zog sie das Leben mit all seinen Facetten in Bann. Neben der eigenen Kreativität, die sie durch Kunst, Musik und Reisen fand, galt ihre Faszination schon immer dem Schreiben. Mittlerweile lebt sie in Freiburg im Breisgau, „eine Station in einer Schatzkästchen-Stadt“, wie sie die Lebensphase und Stadt gerne nennt, widmet sich hier nach ihrer nachträglich abgeschlossenen Fachhochschulreife einem freien Kunststudium und wagt ihre ersten literarischen Publikationen. Beim Gerhard-Jung-Wettbewerb für junge Mundart der Stadt Zell im Wiesental gewann sie im Mai 2022 den 2. Preis in der Sparte „Lyrik“.
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