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Leonie Winter

Leichte Gedankenspiele

Gedankenspiele und Erlebnisse - Wann ist etwas leicht - ein Gedanke, ein Vorhaben? Nachts, wenn man nicht schlafen kann oder etwa im Sommer?



Illustration Wal
Kauen gegen Gedanken - Leonie Winter mit Adobe Fresco

Theresa Vorwerk - Da ist ein Wal in mir

Da ist ein Wal in mir

 

Zeit und Raum gehören nicht zur Welt. Sie gehören zum Menschen, sie sortieren seine Wahrnehmung. Vielleicht fällt in Wirklichkeit alles auseinander. Vielleicht schwebt alles, wenn ich nicht hinsehe. Ein Gedankenspiel, nicht von Gewicht. Ich stecke ja doch darin, ich kann mir ausrechnen, wie schnell dieser Moment hier, ein Moment in Zeit und Raum, wieder vorbei sein wird. Geschwindigkeit ist gleich Kraft geteilt durch Masse. Meine Zeit verläuft nur in eine Richtung, und ich habe einen Körper, ich nehme Raum ein, daran gibt es nichts zu rütteln, daran ändern auch Abstraktionen nichts, kein bisschen.

Zeit: 23:44. Ort: Küche, an die Anrichte gelehnt. Blick aus dem Fenster. Dunkelheit. Der Kühlschrank knackt, als ich ihn öffne, spuckt Licht über die Fliesen. Ich stelle mir das von außen vor: ein schwarzes Rechteck in der schwarzen Mauer, eine Gardine, die etwas schief über die Scheibe ragt, in knittrige Falten geschlagen. Dann ein weißes Licht, kalt (die Temperatur ist sichtbar). Wenn ich unglücklich stehe, kann der Beobachter von außen mein Gesicht aufscheinen sehen, angestrahlt, entstellt, weil Licht und Schatten zu hart aneinander stoßen, weil sich Löcher auftun, wo keine hingehören. Überstrahltes Profil, die Augen liegen im Dunkel, immerhin. Ich stehe aber nicht unglücklich. Ich drücke mich seitlich an den Kühlschrank heran, öffne die Tür nur einen Spalt. Ich sehe trotzdem jedes mal mein Gesicht, als stünde ich gleichzeitig draußen, oder als hätte ich ein Auge im Kühlschrank, das meinem Antlitz begegnet, sobald sich dieser Spalt auftut, durch den das stechende Weiß bricht. Mein moderat gekühltes Auge trifft meinen körperwarmen Blick, und es ist eisig, es ist verächtlich. Mein körperwarmer Blick versteckt sich hinter den Lidern, ich greife schnell zu und sperre das Kühlschrankauge weg. Ich kaue, es ist wieder dunkel. Draußen das Aufheulen eines Motors. Einsame Gestalten, denke ich.

Mein Früher und mein Heute berühren sich. Ich bin ein Kind, und das leuchtende Innenleben des Kühlschranks ist mein Wunder. Das Licht wartet auf mich. Es ist bereitwillig da, wenn ich es anschauen will, jedes mal, wenn ich den Kühlschrank öffne. Ich beneide die Butter darum, in diesem freundlichen, wohl sortierten Kasten zwischen Eiern und kalten Nudeln zu liegen, sich beleuchten zu lassen. Ich halte meinen Kopf in den Spalt, drückte die Tür so weit zu, wie ich es aushalte, für das Gefühl, dabei zu sein. In der Ordnung der Dinge. Im Licht. In der konservierenden Frische. Meine Mutter verbietet es mir. Ich weine. Sie sagt: das Licht geht aus, wenn du die Tür schließt. Ich glaube ihr nicht. Mein Kühlschrank soll hell sein von innen.

Meine Mutter sagt auch zu mir: Geh und hol die Nudeln von gestern aus dem Kühlschrank, und die Butter, ich brate dir welche an. Sie sagt das energisch, nicht ohne Mitleid mit dem weinenden Jungen vor ihr, aber auch nicht ohne Abscheu vor seiner Hilflosigkeit. Sie sagt: Die Anderen sind nicht das Problem. Du bist es. Du lässt alles mit dir machen. Du bist empfindlich, solche Leute riechen das. Sie kippt Nudeln in die heiße Butter, es zischt. Sie sagt: Es wird immer welche geben, die zuschlagen. Sie dreht die Herdplatte herunter und schwenkt die Nudeln in der Pfanne. Sie sagt: Du musst das aushalten. Ein dickes Fell, das ist es, was du brauchst. Sie schüttet die glänzenden Nudeln auf einen Teller und stellt ihn mir hin. Sie sagt: Und jetzt iss. Und ich esse. Ich esse die Nudeln und die erste Hälfte der Portion laufen mir noch die Tränen und der Rotz übers Gesicht und meine Mutter wäscht die Pfanne aus und ich ziehe die Nase hoch und schaufele Nudeln herunter, die mein Schluchzen ersticken. Ein dickes Fell, das ist es, was ich brauche. Nichts zeigen. Nichts erzählen, schon gar nicht vom Schmerz, nicht weinen, nicht schluchzen, Nudeln schaufeln gegen die Tränen, Butter schmelzen gegen das Brennen im Magen, in der Brust, im Kopf. Kauen gegen die Gedanken. Eine Linie, der mein Leben folgt.

Mein Früher und mein Heute laufen auseinander.

Zeit: 23: 57. Ort: seitlich an den Kühlschrank gedrückt, die Tür einen Spalt geöffnet. Blick in das kalte Licht. Ich würde meine Mutter jetzt gern etwas fragen. Ich würde sie fragen, ob sie weiß, wie viel ein dickes Fell wiegt, und wie ein Junge das tragen soll, wie er das stemmen können soll. Ich höre sie: Nimm das nicht so schwer. Und ich verrenne mich in der Semantik. Schwer sein macht es weder leichter noch einfacher. Das dicke Fell, es bröckelt, es ist porös, es fällt, zieht nach unten, es nimmt jeden Pfeil bereitwillig auf, um ihn nie wieder loszulassen. Ein dickes Fell legt sich über Knochen, Muskeln, Lunge, Herz. Kein Panzer, daraus ist nie ein Panzer geworden, sondern ein Schwamm, der die Worte aufsaugt, sie sich einverleibt, sie phagozytiert, sie einschließt, ohne sie je zu verdauen. Und der Schmerz wächst nach innen und bläht die Haut auf und es gibt keine Tränen mehr, nur noch kauen, schlucken, kauen. Ich bin geworden, was ich werden wollte, ein Körper von Gewicht, mit Masse, mit Anziehungskraft, aber ich habe nicht aufgehört, ich überrage mich selbst, sprenge den Platz, den die Welt für mich hat; jetzt liegt mein Auge auf Eis und ich klebe seitlich am Kühlschrank, damit die einsamen Gestalten draußen mein Gesicht nicht sehen, nicht mein dickes Fell betrachten können.

Ich brauche die Anderen nicht mehr zur Demütigung, ihre Worte hallen unter dem dicken Fell, es gibt keinen Ausgang. Nur noch Hass auf das, worin ich wohne, ich weine nicht, kaue, schlucke. Das Sein ist unerträglich schwer, weil sich alles wiederholt, immer und immer wieder, es gibt aus diesem Zirkel des Abscheus keinen Ausstieg, denn da ist ein Wal in mir, der wird von eisgekühlten Augen angeblickt, der trägt die Schrammen von Harpunen auf seiner Außenkruste und ihre Widerhaken unverdaut im Magen, der taucht ab und frisst, um nicht zu erfrieren. Aber so groß kann man nicht werden, dass Welt und Schmerz und Worte harmlos sind.

Wenn Zeit und Raum mir gehören, zu meiner Wahrnehmung gehören, warum kann ich nicht damit aufhören, sie zu setzen? Warum ist es dann nicht anders –

Zeit: 00:09. Ort: am Fenster, Blick auf die Straße. Draußen eine der einsamen Gestalten unter der Straßenlaterne, ein Typ, über sein bärtiges Gesicht läuft gelbes Licht, er raucht. Ich schaue dem Qualm hinterher. Er schaut dem Qualm hinterher. Unsere Blicke treffen sich. Ich stehe im Dunkeln, es fühlt sich so an, als sähe er mich, als wäre ich sichtbar. Ein Ort in der Zeit, im Raum, und das, auch das fühlt sich an wie Wirklichkeit. Er zieht die Mundwinkel hoch. Ein Lächeln – das Lächeln ist leicht.

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