Eine Kurzgeschichte von Stephan Kaiblinger über Dinge, die wir nicht wahrnehmen und wie diese Dinge Menschen wahrnehmen, die wir nicht anschauen.
Schreibprompt: Welche Dinge bewachen die Straße vor deiner Haustür bei Nacht? Schreibe in einem Format deiner Wahl: Kurzgeschichte, Textschnipsel, Gedicht, Songtext.... Der Hydrant ist so klein und rostig, dass man ihn im Gewimmel des Hauptplatzes gerne übersieht. Vor Jahren haben ihn Volksschulkinder mit gelber und grüner Farbe bemalt und ihm ein Gesicht geschenkt und viele rätseln, ob es dieser Umstand war, der ihn, einem Schutzschirm gleich, davor bewahrt hat, gegen eine jüngere, glattere, silberne Version seiner selbst ausgetauscht zu werden. Früher hatte es ein Schild gegeben, das die Kinder gebastelt und neben ihm in die Blumenerde gerammt hatten, auf dem sie eine Geschichte für ihn erfunden hatten. Nach vielen Jahren war es zerfallen und die Kinder, die zu Erwachsenen geworden waren, hatten nie Anlass gesehen, es zu ersetzen. Gelegentlich kommt einer der Gemeindegärtner, von denen der Hydrant schon so viele hat kommen und gehen sehen, und versucht, ihm ein wenig Wasser abzuschwatzen, doch der Rost in seinen Gelenken verhindert es. Immer wieder droht man ihm dann mit der Feuerwehr, aber die Mühe, sich mit ihm anzulegen, will sich letztendlich doch keiner antun. Also haben sich die Menschen daran gewöhnt, ihn zu ignorieren und ihn zurücktreten zu lassen hinter die Sträucher des Stadtverschönerungsvereins.
Wenn es Nacht wird auf dem Hauptplatz und die Menschen ihre Vormachtstellung aufgeben, beginnt die Herrschaft der Laternen, deren Schein nichts entgeht, was sich nicht geschickt in die Ecke eines Schattens zu ducken vermag.
Unter ihrem Licht nehmen alle ihre Posten als Stellvertreter des Tages ein. Die Sitzbank vor der Bäckerei wird ein Bett ohne Matratze, auf dem die Schwärmer der Nacht ihren Räuschen erliegen. Die Telefonzelle, die mit einem gelben Aufkleber darum bettelt, nicht zerstört zu werden, da sie Leben retten könne, nimmt den Platz der Toilette im Rathaus ein, für die keiner sein Kleingeld opfern möchte. Die Linde bietet ihre Blätter als tausende kleine Regenschirme an. Der Stadtbrunnen, obschon sein Kupferschild verkündet, er führe kein Trinkwasser, wird zum Wasserspender. Und die Altkleidersammelbox bietet sich als Kleiderkasten an für einen, der nachts immer vom kleinen Pfad des Friedhofes daherkommt, weil ihn die Toten noch nicht zu sich lassen wollen, obschon er manchmal zwischen ihren Grabsteinen schlafen darf. Bekleidet mit dem Gewand, das andere nicht brauchen, schlendert der Mann über den Hauptplatz, bis er den Hydranten erreicht.
Der hat ein Gesicht, das er nicht abwendet, wenn der Mann zu ihm spricht und ihm all die Kinkerlitzchen zeigt, mit denen er sein durchlöchertes Gewand behängt hat. Auch ihn zieren Stellvertreterdinge – Kronkorken und Brillenputztücher sind zu Orden geworden, mit denen er sich dekoriert, Auto- und Computergehäuseteile sind die Abzeichen seiner Alltagsuniform, denn er, sagt der Mann, sei einer der letzten Helden und gekommen, um ihn, den rostigen Überlebenden des Hauptplatzes zu beschützen. Der Mann ist mit einem schweren Eisenrohr bewaffnet, das wie ein Schwert an seinem Gürtel baumelt, um damit seine Müllsäcke, die ihm Reisetaschen und Kleiderkästen sind, verteidigen zu können. Dabei will sich ihm ohnehin keiner nähern.
Er sei harmlos, sagen die Leute, er störe keinen, er passe mit seiner Handvoll Sonderlichkeiten als merkwürdiger, erzählerischer Kauz, als kleine Disharmonie in das abgerundete Stadtbild.
Der Mann nimmt neben dem Hydranten Platz. „Wie geht es dir?“, fragt er ihn, dessen Lächeln ihm antwortet: „Mir geht es gut, danke.“
„Es war ein langer Tag“, sagt der Mann und fummelt an einem seiner Kronkorken herum. Könnte der Hydrant es, würde er sich vielleicht fragen, ob der Mann eines der Kinder war, die ihm sein Schild geschenkt haben und ob es Pflichtbewusstsein sein mag, das ihn immer wieder hierher zurückführt. Oder ob er sich darauf verlässt, dass der Hydrant nie die Augen seines aufgemalten Gesichts schließt, er somit die perfekte Rückendeckung ist, die ein Held der Nacht sich wünscht. Oft schläft der Mann rasch ein, sobald er sich neben dem Hydranten niedergelassen hat, aber heute bleibt er wach.
„Ich kenne deine Geschichte“, sagt der Mann zum Hydranten. „Auf dich vergessen sie gerne. Wie auch auf mich. Sie wissen nicht, dass du der Älteste von allen bist, du bist die einzige Ader zum Styx, zum Urfluss, in dem wir das Wasser der Unsterblichkeit finden könnten. Aber wir würden nur einen Tropfen vertragen, alles andere würde uns vergiften. Würden wir deine Schleusen öffnen, könnten wir alle Länder fluten und aus den Trümmern ein neues Atlantis bauen, schöner als alle Kathedralen des Himmels, und wir wären ein Volk aus Boots- und Floßfahrern, die einzigen Grenzen wären Ober- und Unterwasser.“
Der Hydrant spürt, wie der Mann liebevoll seine Verschlüsse streichelt. Mit dem langen Nagel des Zeigefingers kratzt er ein wenig Rost ab und riecht daran.
„Sie vergessen es“, sagt der Mann, „und es wird gut sein, sie nicht zu erinnern. Aber selbst, wenn ich es versuchen würde, sie hören mich nicht, wie sie dich auch nicht hören. Darum wird’s uns alle nicht mehr geben, wenn’s dich gibt. Darum wird es für dich noch ein Morgen geben, wenn es für uns keins mehr gibt.“
Er umarmt den Hydranten, dann schläft er ein.
Über den Autor: Stephan Kaiblinger
Geboren am 20. Mai 1990 in Wien. Studium Germanistik, Philosophie und Psychologie von 2009 bis 2015 an der Universi-tät Wien, anschließend Unterrichtstätigkeit an diversen österreichischen Gymnasien. Unterrichtet am WMS/RG/ORG antonkriegergasse im 23. Wiener Gemeindebezirk Deutsch und Ethik. Teilnehmer der Leondinger Literaturakademie Jahrgang 2022/23. Veröffentlichungen in diversen Literaturmagazinen (Heckmag, Litrobona, &radieschen, DUM)
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